Der Weg ist das Ziel

Das europaische Netz des Jakobsweges. Wie der Weg des Wassers zieht er sich erst als kleine Rinnsale, dann als Bäche und zum Schluss als breite Flüsse zum
Das europaische Netz des Jakobsweges. Wie der Weg des Wassers zieht er sich erst als kleine Rinnsale, dann als Bäche und zum Schluss als breite Flüsse zum „Meer“. In diesem Sinne ist damit Santiago de Compostela gemeint.

Fünf Jahre bin ich auf Santiago zugelaufen. 2800 km und fünf lange, bedeutende Jahre, in denen sich viel bewegt hat. Anfang nur in „kurzen“ Etappen. Von Stuttgart nach Freiburg, 200km und für mich damals eine Welt. Doch auf dieser Reise packte mich die Neugier, ich wollte diese Erfahrung intensivieren und lief im darauffolgenden Jahr 400km von Freiburg nach Cluny. Das Fieber hatte mich gepackt. Im Jahr 3 setzte ich meinen Weg in Cluny fort und lief ins Zentralmassiv, genauer gesagt in den Aubrac, in dem das sündhaft teure, aber auch sündhaft gut schmeckende „Aubrac-Rind“ seine Heimat hat. Doch nach drei Jahren lagen immer 1800km vor mir und deshalb beantragte ich bei meinem Arbeitgeber eine um 20% verkürzte Arbeitszeit und arbeitete nunmehr auf Überstundenbasis. Innerhalb einen Jahres hatte ich soviel gearbeitet, dass ich 16 Wochen frei hatte. Der Beginn einer unstillbaren Verrücktheit. Ab jetzt konnte ich pro Jahr mehr als 1000km laufen. Ich lief vom Zentralmassiv zu den Pyrenäen, dann durch diese nördlich auf dem GR10 bis Hendaye am Atlantik und von dort aus immer an der Küste entlang nach Oviedo. Hier durchquerte ich das Cantabrische Gebirge und erreichte so im Sommer 2015 Santiago de Compostela, besser gesagt Muxia, am westlichsten Ende des spanischen Festlandes. Ich versuche mittlerweile den Namen dieser Stadt in meiner Wanderchronik zu vermeiden.

Dazu fiel mir vor kurzem ein Tagebucheintrag in die Hände, den ich während meiner letzten Fußreise von Stuttgart in meine Heimat Sachsen verfasste. Er bezieht sich auf einen Besuch in der evangelisch-lutherischen St.Jakobskirche in Rothenburg ob.der Tauber.

„…Ein Pfarrer kommt hinzu und nachdem ich ihn erst kritisch grob zurückweise, merke ich, dass er eigentlich ganz nett ist und binde ihn in das Gespräch mit meiner Herzensdame vom Empfang ein. Ich erstehe eine Pilgermuschel und er schreibt eine Widmung hinein. Ein guter Ort für einen Neuanfang. Denn ich habe vorhin gemerkt, dass ich über die Schmach meiner negativ gefärbten letzten und finalen Pilgerreise nach Santiago, zu der sich für die letzten zwei Wochen mein damaliger Partner hinzugesellt hat, doch nicht hinweg bin. Zwei Wochen lang ein Auf und Ab und zum Schluss, nur wenige Kilometer vor dem großen, langersehnten Ziel ein unwiderrufliches Ab. Ein jähes Ende. Ein schlimmer Streit 6km vor Santiago. Obwohl ich erklärte, ich bräuche zwingend auf den letzten Kilometern Ruhe und Harmonie und wieviel mir diese letzten Kilometer bedeuten. Doch es bricht ungehemmt aus ihm heraus. Ich bleibe zurück, weil ich die Welt nicht mehr verstehe und unter diesen Umständen nicht (mit ihm) in Santiago einziehen will. Das wäre und war mein Traum einer funktionierenden Beziehung. Eines Mannes, der sich im entscheidenden Moment zugunsten eines großen Zieles zurückhalten kann. Doch so ein Mann ist er nicht. Am Tag darauf ziehe ich weiter. Ohne ihn. Und als ich die Stadt erreiche, hält sich meine Euphorie stark in Grenzen. Im Gegenteil. Ich bin niedergeschlagen und kaufe mir Bier in einem kleinen Lebensmittelladen. An diesem Abend knalle ich mir einen hinter die Binde, dass es nur so kracht. Ich will die Enttäuschung betäuben. Und dann nichts wie weg und weiter nach Muxia. Dieses hässliche, eiskalte, in Trauerflor gekleidete Santiago! Denke ich an diese Stadt, denke ich an eine sehr schlimme Zeit. An einen meiner größten seelischen Tiefgänge. Ein Schmerz, der mich bis jetzt nicht loslässt. Ich werde mir ein anderes Santiago schaffen und mit dem alten meinen Frieden schließen müssen. Die Muschel ist der Anfang. Die reinweiße, naturbelassene Muschel und die Widmung des Pfarrers aus Rothenburg….“

Ich muss dazu sagen, dass ich mehr Eremit als Gesellschaftssuchender bin und auch der Vorstellung erlegen war, nach dem Trubel auf dem spanischen Jakobsweg, noch einmal einen sehr schwach begangenen Teil der Pilgerroute zu gehen. Und dass es mich reizte in die umgekehrte Richtung zu laufen. Mehr noch allerdings die Vorstellung nach Hause zu gehen. Da ich spirituell, aber nicht christlich bin, spielt also der religiöse Gedanke einer Pilgerreise eine eher untergeordnete Rolle für mich.

„….Ich gehe zurück zu meinen Wurzeln. Als Mensch auf dem Weg und als Individuum zum Ort meiner Kindheit. Ich gehe zurück in meine Heimat, da, wo mein Herz mich seit Jahren hinzieht, mal mehr, mal weniger. Im Moment eher mehr. Ich gebe diesem inneren Druck nach und lasse mich wie ein Magnet anziehen. Ich laufe auf direktem Wege nach Sachsen, nach Langenbernsdorf. In die geliebte Heimat. Mit jedem Tag ein Stück näher an meinem Zuhause. Wenn das kein Grund zur Freude ist. Diese Reise steht im Zeichen des Optimismus, das habe ich mir ganz fest vorgenommen. Ich, ein im Moment passionierter Negativdenker und in Selbstmitleid versinkender Trübsalbläser habe mir auferlegt drei Wochen lang positiv zu denken und das Beste aus jeder Situation zu machen, egal ob ich sie ändern kann oder nicht. Das ist ein Versuch. Ich bin neugierig, was mit mir passiert. Ich muss und will wieder auf die Beine kommen und dazu brauche ich einen Neustart und einen Blickrichtungswechsel….“

Also laufe ich im Herbst 2015 weitere 500km von Stuttgart nach Chemnitz. An dieser Stelle nimmt der Jakobsweg für mich ein Ende. Denn eine Pilgerreise beginnt im klassischen Sinne vor der eigenen Haustür und zieht sich hin zu einem großen symbolträchtigen religiösen Ort (z.B.Santiago, Rom, Jerusalem), aber auch zu einem spirituellem Ziel.

Ob ich jedoch nach 3300km mein spirituelles Ziel, mein „Santiago“ erreicht habe, das bleibt offen. Es bleibt eine große Portion Sehnsucht. Nach Abenteuer, Natur, Stille und Erkenntnis. Das treibt mich an.