Vom „Vietche im Töpfche“ und Atomwaffen in Fulda

Vacha gab den Aufwind. Genauer gesagt, der Besuch eines Grenzturmes und dem amerikanischen Beobachtungspunkt „Alpha“ in der Nähe von Geisa, einer von vier Observierungspunkten der westlichen Besatzungszone, an dem jederzeit hätte der Dritte Weltkrieg ausbrechen können. Aber mehr dazu später.

20160528_120039_kindlephoto-8655263Auf den Grenzturm an der Werrabrücke in Vacha bin ich eigentlich nur durch Zufall aufmerksam geworden, nachdem ich im Rathaus Ausschau nach jemanden hielt, der mir die Legende vom „Vietche im Töpfche“ erzählen könnte. Auf dem mit unzähligen Fachwerkhäusern umsäumten Marktplatz steht nämlich der sogenannte Vitusbrunnen aus dem Jahre 1613, der genau diese Legende thematisiert.
„Gehen Sie doch mal zum Grenzturm, da treffen Sie die Dame von der Stadtinformation an! „, erklärt mir eine Frau aus geöffneter Bürotür. Sie selber kannte die Geschichte auch nicht. Nun ja, die Erfahrung mache ich häufig, die Leute kennen sich vor ihrer eigenen Haustür nicht aus. Ob mir diese Sage jetzt allerding soviel wert ist, dass ich einen weiteren Weg dafür in Kauf nehme? Naja, ich mach mich mal auf den Weg… Vor dem Turm drängt sich mir ein mit Graffiti besprühtes Stromhäuschen ins Blickfeld:

„Ein Volk ohne Mauer -Ein Volk in Freiheit“

Immer wieder erinnern solche Denkmäler in Grenznähe daran, dass es eben NICHT selbstverständlich ist, dass wir in einem vereinigten Deutschland leben. Sie zeugen davon, wie groß ursprünglich die Freude über die Grenzöffnung war, machen aber auch immer wieder deutlich mit wieviel Erfurcht wir diesen Teil deutsch-deutscher Geschichte behandeln sollten. Auf einer Informationstafel am „Haus auf der Grenze“ in Geisa lese ich:

Die Geschichte der Mauer beweist, dass der Wunsch nach Freiheit auf Dauer stärker ist als Beton.

Ein wahres und schönes Sinnbild. Sind wir uns eigentlich bewußt, was Freiheit bedeutet und welchen Wert sie hat?

Bewegende Rückblicke, aufschlussreiche Einblicke und interessante Ausblicke

Wenige Meter entfernt vor dem Wachturm sitzt auf Campingstühlen ein dreiköpfiges Komitee und heißt mich freundig willkommen. Petra, Michael und Kathleen, letztere ist die besagte Dame, die normalerweise im Informationsbüro arbeitet. Drei Generationen, jeder von ihnen in der DDR geboren und jeder von ihnen mit ganz individuellen Erfahrungen ausgestattet. Nachdem die Wiederherstellung des Grenzturmes durch Fördergelder ermöglicht wurde, schlossen sie sich zusammen und gründeten die Interessengemeinschaft „Grenzturm“. Seitdem ist er einer der wenigen Türme, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Ehrenamtlich und mit viel Herzblut engagiert sich der kleine Trupp bei der Betreung des Projektes. Es entsteht schnell ein lebendiges Gespräch und in der kleinen Ausstellung im Inneren des Turmes mache ich mir ein Bild von den damaligen Arbeitsbedingungen der Grenzsoldaten, dem Verlauf und der Entstehung der Grenzanlage in Vacha und wieviele Einschränkung ein Leben im 500m-Schutzstreifen für die Einwohner hier eigentlich bedeutet haben muss. Auch Vacha nimmt, wie beispielsweise Mödlareuth, Heinersdorf oder Berlin einen Sonderstatus ein, weil es unmittelbar an der Genze liegt bzw. Berührungspunkte zu einem Ort der westlichen Besatzungszone hatte. Es wurde deshalb aus Gründen der Sicherheit und zum Gewährleisten einer Sichtsperre zusätzlich zum Metallzaun mit einer Betonmauer ausgestattet. Die Legende bringe ich natürlich trotzdem noch in Erfahrung, denn das war ja der eigentliche Grund meines Besuches. Der Brunnen zeigt den Heiligen Vitus als Ritter. In seiner rechten Hand stützt er sich auf eine Lanze, in der linken hält ein Schild, auf dem ein Männlein abgebildet ist, dass aus einem Töpfchen schaut. Das „Vietche im Töpfche“, einem Nachtwächter aus Vacha, der, als einmal die Stadt belagert wurde, den Feind auskundschaftete. Er wurde jedoch entdeckt und zur Strafe in einen Topf aus siedenden Öl geworfen. Der Heilige Vitus, der selbst als 12-Jähriger auf diese Art und Weise in den Tod fand, hielt schützend seine Hand über ihn, sodass der Nachtwächter diesen Vorfall überlebte und Vitus zum Schutzpatron der Stadt wurde.

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Observation „Point Alpha“

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Aus den Straßenschildern, die sich an den ehemaligen deutsch-deutschen Grenzübertritten befinden, geht hervor, dass der „Eisene Vorhang“ nicht nur eine Schneise durch Deutschland, sondern durch ganz Europa zieht. Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnet sich die Unvereinbarkeit der Interessen der westlichen Besatzungsmächte USA, Frankreich und England und denen der Sowjetunion ab. Währungsreform, Marshallplan, und Kapitalismus auf der einen, immense Reparationszahlungen, starre Planwirtschaft und Sozialismus auf der anderen Seite. Nur ein Beispiel, dass verdeutlicht, wie unterschiedlich die Startbedingungen beider Staaten waren: Die Reparationen in der DDR betrugen fast 98% der gesamtdeutschen Entschädigungszahlungen, das entspricht pro Kopf dem 130-fachen eines Bundesbürgers, während sich die BRD mit einem 12,4 Milliarden Dollar großen Wiederaufbauprogramm in Form von Krediten, Rohstoffen, und Lebensmitteln gesundete.

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Karikatur von Mirko Szweczuk zur beginnenden Blockkonfrontation: die USA und die Sowjetunion personifiziert als Erwachsene und die Blockstaaten als deren Kinder. Vom einen erhalten sie Hilfe, vom anderen Drohungen.

1955 schließen sich die westlichen Allierten dem Verteidigungsbündnis NATO an, die DDR dagegen zusammen mit anderen kommunistisch geprägten Ländern dem Warschauer Pakt. Die Feindschaft zwischen beiden Systemen wird immer größer. Die Festung des kommunistischen Herrschaftsregimes durchschneidet bald ganz Europa und teilt es in zwei Lager. Auch in der Tschechoslovakei, Bulgarien, Ungarn und Rumänien werden Grenzsperranlagen errichtet und unter Waffeneinsatz verteidigt. Niemand soll ungehindert die Grenze des Sozialismus überschreiten und flüchten können. Es beginnnt ein militärisches und atomares Wettrüsten beider Systeme an dessen Grenzen es kriegsstrategisch vorteilhaft gelegene Gebiete gibt, an denen die NATO jederzeit mit Angriffen der Truppen des Warschauer Paktes rechnet. (Im umgekehrten Falle lassen sich Kriegsstrategien des Warschauer Paktes bis heute nicht exakt rekonstruieren, da entscheidende Quellen in Moskau nicht zugänglich sind!)  Eines dieser Gebiete, an denen ein Angriff am wahrscheinlichsten gewesen wäre, stellt das sogenannte Fulda-Gap, die Fuldaer Senke dar, ein vergleichsweise flaches Gebiet in Osthessen, dass nördlich vom Harz und südlich vom Thüringer Wald begrenzt wird. Hier ragt der Ostblock (die heutige thüringische Grenze) am weitesten in den Westen hinein und sowjetische Truppen hätten innerhalb von 48h bis zum Rhein vorstoßen können. Am 411m hoch gelegenen Observierungspunkt „Alpha“ in der Nähe von Geisa richteten deshalb die Amerikaner einen Beobachtungsstützpunkt ein, an dem der Funkverkehr der DDR abgehört werden konnte und Grenz- und Umlandsüberwachung betrieben wurde. Die erforderlichen Daten wurden dann von den Amerikanern ins Hauptquartier nach Fulda weitergeleitet, ausgewertet und sollten so einen möglichen Angriff frühzeitig erkennen lassen. Wären die Truppen des Warschauer Paktes hier aufmarschiert, hätte man versucht, sie um jeden Preis, innerhalb einer 50km-Zone aufzuhalten, um ihr Vordringen in Richtung Rhein zu verhindern und den wichtigsten aller NATO-Luftwaffenstützpunkte zu schützen: die Rhein-Main Air Base. Zu diesen Zweck hatte man unter den Straßen eingelassene Sprengkammern gebaut, aber auch den Einsatz von Nuklearwaffen zog man in Betracht. In und um Fulda deponierte man aus diesem Grund 141 Atomwaffen. Wären diese zum Einsatz gekommen, hätte man im Sinne ein höheren Zieles die Zerstörung eines ganzen Landstriches und tausender ziviler Menschenleben in Kauf genommen und unter „Kollateralschäden“ verbucht. Ein Szenario, das man sich nicht ausmalen möchte.

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Point Alpha, die Grenze von der anderen Seite. Ein Einblick in das herausfordernde Leben der US-Soldaten im Camp, aber auch die Thematisierung amerikanischer Kriegsstrategien verdeutlicht die angespannte Situation zu Zeiten des Kalten Krieges. Die Gefahr eines Angriffes war allgegenwärtig. Das lässt sich nach einem Besuch im angeschlossenen Museeum nicht mehr verdrängen. Hier hätte vor nicht allzu langer Zeit der Dritte Weltkrieges seinen Ausbruch finden können. Hier wird das Wort „Krieg“ greifbar. So greifbar, dass es mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt und mich sorgvoll, nachdenklich und bewegt zurück in das Jahr 2016 entlässt. Wie weit sind wir eigentlich mittlerweile wieder von solchen Szenarien entfernt? Ist Frieden vielleicht doch nur eine Illusion?

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6 Gedanken zu “Vom „Vietche im Töpfche“ und Atomwaffen in Fulda

  1. Einfach phantastisch: deine Berichte, die Erlebnisse, deine Stärke und Ausdauer. Man spürt soviel Lebendigkeit und Freude am Leben und an den Menschen und ihren Geschichten.
    Ich lese weiter mit großem Interesse!
    Und wünsche dir natürlich, dass du dein Ziel erreichst!!
    Viel Glück und Kraft für dich.

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    1. Hallo liebe Elli! So eine Überraschung! Vielen Dank für deine lieben Worte. Ich freue mich schon, wenn ich in zwei Wochen bei Katrin in Helmstedt bin. Ich hoffe,es geht dir gut und du hast dich mittlerweile ein wenig eingelebt.Fühl dich ganz lieb umarmt.

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  2. Als ich Mitte der 80er Jahre etwa 13/14 Jahre alt war und wir Besuch von unserer „Westverwandschaft“ mit deren zwei Jahre älteren Sohn hatten, stellten wir beide uns vor, wie es irgendwo zu einem Zwischenfall käme und, gefolgt von Panik und Kopflosigkeit, irgend jemand den „Roten Knopf“ drücken würde.
    Es hieß damals, nur acht Minuten würden diese Raketen bis zu ihrem Ziel benötigen…
    Zum Glück ist es nie dazu gekommen!
    Gut, wenn man wieder mal an diese Bedrohung erinnert wird.
    Sie existiert immer noch, nur in anderer Form.
    Danke für deine Berichte, liebe Uta, und viel Glück auf allen deinen Wegen!

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  3. Hey Uta, Du Grenzgängerin! Wie immer habe ich Deinen Bericht interessiert gelesen und festgestellt, dass das vor gefühlt 1.000 Jahren – also zu einer Zeit, zu der die Mauer noch im Echtbetrieb war – mal Gegenstand des GK-Unterrichts war. Hallstein-Doktrin und Roll-Back-Strategie.. Ich war damals auf der blauen Seite der Mauer, Du auf der roten. Schon ganz gut, dass das Teil gefallen ist, sonst hätten wir uns nie im Zug kennen gelernt. Wünsche Dir weiter eine spannende Reise und freue mich auf Deine Berichte, Grüßle vom Fahrgast Nr. 1;-)

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  4. Grüß dich Uta!
    Die Wurscht ist angekommen!Aufheben oder selber essen?
    Man fühlt die Angst und Ungewissheit der damaligen Zeit in deinem Bericht.
    Nun ,man hat uns die Ungewissheit der Zukunft in diesem System auch nicht genommen,nein man verstärkt sie sogar,sie stellen uns vor vollendete Tatsachen,obwohl sie dafür nicht gewählt wurden.
    In mir schreit es nur noch nach:Revolution.
    Weg mit dieser Schmarotzer -und Lügnerkaste von Politikern,
    hin zu einer menschenwürdigen und ehrlichen(meinetwegen auch populistisch genannt)Regierung/Politik.
    Wir Normalos kommen doch mit allen Menschenschlägen klar nur die Dödel von da oben erzählen uns in ihrem eigenen Interesse wer für uns gut ist und wer nicht.
    Darum:Hirn einschalten und sich selbst verwalten.
    Gruss Rüdiger

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    1. Rüdiger, normalerweise halte ich nichts davon, Kommentare zu kommentieren, aber in dem Fall ist es doch anders als sonst! Als kleinstmögliches politisches Rädchen in meinem Bundesland (BW – Ortschaftsrat) und ohne irgendwelche Ambitionen nach größerer Politik fühle ich mich doch irgendwie angesprochen. Mit ist das zu pauschal, einfach und billig: was soll das? Revolution – Schmarotzer- und Lügnerkaste – menschenwürdige und ehrliche (populistische!) Regierung, sorry, aber damit kann ich nichts anfangen.

      Jeder oder jede, die sich jemals irgendwie für das Gemeinwohl – und darum geht es in der Politik ja wohl in allererster Linie – engagiert hat, weiß, wie anstrengend, zeitraubend und manchmal auch nervend das sein kann. Wo um Gotteswillen sind denn die Zustände in unserem Land so unhaltbar, dass eine Revolution die Lösung wäre und welches sind denn die Probleme, die einer Revolution bedürften? Und was kommt danach? Was ist überhaupt eine menschenwürdige und ehrliche Regierung/Politik? Die, die sich mit dem Volk (was ist denn das jetzt wieder?) gemein macht und jedem nach dem Maul redet (das wäre dann eine populistische Regierung) oder die, die Vor- und Nachteile einer Entscheidung sorgfältig abwägt und diese dann trifft, auch wenn diese nicht der Meinung aller entspricht?Die einzige Lösung in einer Demokratie und globalisierten Welt liegt doch darin, sich einzugestehen, dass nichts für ewig ist und das man sich ständig auf veränderte Umstände einstellen muss. Verdammt hartes Brot, ich weiß, aber alles andere wäre keine Verbesserung, sondern Verschlechterung.

      Gruß

      Uli

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