Die Nacht auf dem Zeltplatz in Hohegeiß war nass und kalt, meine Schuhe habe ich eine halbe Stunde lang unter den Handtrockner der Toilette gehalten. Nun stinkt zwar das ganze Bad nach dem süßen Duft eines Wanderschuhs, mit dem man bereits 3000km gelaufen ist, aber wenigstens sind sie trocken ;-). Eine Stunde lang, dann fängt es wieder an zu regnen. Ich rette mich unter das Vordach eines Wohnwagens und warte, bis der stärkste Regenguss vorbei ist. Im Ort suche ich etwas Essbares und stoße auf den „Frischmarkt Bruns“, der letzte Rundumversorger dieser niedersächsischen Region. Das Geschäft ist auch heute noch ein Hauptverteiler für Gerüchte und Informationen. Kinder kaufen hier ein, bevor sie zur Klassenfahrt aufbrechen, Luftkurgäste versorgen sich mit Kleinigkeiten für die Gelüste zwischen den Klinik-Mahlzeiten, eine Mutter mit zwei Kindern besorgt noch schnell ein paar Backzutaten, da sich kurzfristig Besuch angemeldet hat und im hinteren Teil des Ladens stehen Männer und trinken Flaschenbier für einen Euro am Stehtisch. Als sich damals die Grenze öffnete, kam Bernhard Bruns, dem damaligen Besitzer, eine bedeutende Rolle zu: Auf der Straße sah er einen Bankdirektor mit einem Koffer voller Begrüßungsgeld und bestellte sofort 20Kästen Bananen. Jeden Tag fuhren fortan Lastwagen mit Obst, Jogurt, Zeitungen und allerlei Verkäuflichen bei Bruns vor. Nach anderthalb Jahren Gesamtdeutschland wurde es ruhig um den Tante-Emma-Laden, die Neubürger fuhren zu den Discountern, der Boom war vorbei. Mittlerweile hat sein Sohn den Laden im Sinne seines Vaters übernommen und die alten unverderblichen Verkaufsgüter aus den 80er und 90er-Jahren einfach in den vorderen Bereich des Ladens geräumt, um sie wenigstens noch für den halben Preis zu verkaufen. Ein Blick in die bunt gefüllten Regale versetzt einen in eine längst vergangene Zeit. Das größte kleine Geschäft, das ich je gesehen habe! Ich stehe an der Ladentheke mit meinem Hackepeterbrötchen und einer Fruchtmilch in der Hand und hänge dem jungen, immer lächelnden Michael Bruns mit seiner ruhigen Stimme während seiner Erzählungen an den Lippen. Für ein paar Minuten tauche ich in diese Welt und beobachte die Szenerie der ständig kommenden und gehenden Kundschaft. Er kennt all ihre Wünsche, sowie deren Familienverhältnisse, weiß, wer welche Zigarettenmarke raucht und welche Bonbonmarke der kleine Kevin am liebsten mag. Für jeden nimmt er sich Zeit, mit jedem wechselt er ein paar persönliche Worte und gibt den Menschen so das Gefühl, wichtig zu sein und geachtet zu werden. Die Leute kommen gerne hierher. Da zieht sich der Himmel schwarz zu und es beginnt es zu hageln. Auf den Brocken schaffe ich es heute nicht mehr, deshalb entschließe ich mich, mit einem Bauunternehmer nach Schierke zu fahren und mir dort ein günstiges Zimmer zu suchen. Auf dem Weg dorthin, bekomme ich durch allerlei Umwege und Abstecher noch einen lohnenswerten Einblick in die Region. In Schierke befindet sich das einsturzgefährdete ehemalige Luxushotel „Heinrich-Heine“, dass Ende des 19.Jahrhunderts im harztypischem Reformstil errichtet wurde und zu DDR-Zeiten zum „Dorado der Ostzonenminister und hohen Parteifunktionäre“ wurde. Im Fernsehen sah ich darüber einen Bericht, seitdem fasziniert mich dieses Haus. Was liegt näher, als ihm einen Besuch abzustatten, wenn ich mich hier befinde? Das Hotel war eines der ersten, das mit Zentralheizung und fließend Wasser ausgestattet war, es verfügte über ein Wiener Restaurant, Billiardtischen und einem Tanzsaal mit Bar. Abends stellten die Gäste ihre Schuhe vor die Zimmertüren, um sie am nächsten Morgen frisch gewienert wieder in Empfang zu nehmen. Und es war das einzige Hotel, in dem man durch die Grenznähe Westfernsehen empfangen konnte. Viele der hochkarätigen Gäste sind aus diesem Grund tagelang auf ihren Zimmer verschwunden. Ich streife durch die weitläufige Areal des ehrwürdigen Gemäuers und spüre noch den Geist von damals in der Luft. 6 Tage später höre ich im Radio, dass mit den Abrissarbeiten begonnen wurde…
Am höchsten Punkt der innerdeutschen Grenze
Der große Tag ist gekommen. Ich besteige den Brocken über den Hexenstieg und bereits nach wenigen Metern fallen mir die Blockfelder, die unzähligen Granitfindlinge und die vielen Baumleichen auf. Hektarweise Totholz, ich bin erschrocken. Die Antwort kommt wenige Kilometer später auf einer Infotafel: Seit 1990 trägt der Harz den Status „Nationalpark“ und ist damit eine von 5000 weltweit mit diesem höchsten aller Schutzprädikate ausgezeichnete Naturlandschaft, in der der Mensch nicht mehr in das natürliche Werden und Vergehen eingreift. Die Ursache für das Baumsterben ist die Massenvermehrung des Borkenkäfers, der geschwächte Bäume befällt, von denen sich dann die Rinde löst, die daraufhin von Insekten und Pilzen befallen werden und schlussendlich einem natürlichen Zersetzungsprozess unterliegen. Dadurch werden zahlreiche Nährmineralien freigesetzt und wiederum wertvolle neue Lebensräume für andere Tierarten gebildet. Gesunde Bäume können den Borkenkäfer mit Harzabsonderung abwehren, bereits geschwächte erliegen ihm. Eine natürliche Auslese entsteht, der ganz normale Evolutionsprozess also. Was mir jedoch auch auffällt, sind die zahlreichen Wanderer, die nun meinen Weg kreuzen. Hochwärts fahren sie mit der Brockenbahn, hinab wird gelaufen. Die Brockenbahn ist eine von vier Dampflokomotivstrecken, die von der Harzer Schmalspurbahn bedient wird. Eines der letzten großen Dampfabenteuer dieser Welt. Früher war jedoch die Weiterfahrt zum Brocken nur den Grenztruppen der DDR, den Stasi-Mitarbeitern und den Sowjets vorbehalten. Für den normalen DDR-Bürger endete die Reise in Schierke. Wie gern hätte ich mir dieses Vergnügen gegönnt, doch das Erklimmen des Brockenplateaus zu Fuß ist auf dieser Reise für mich Ehrensache. Ich begnüge mich stattdessen mit einem fachspezifischen Gespräch über die ungewöhnlich niedrigen Bremsgewichte der Lok und einer Führung durch den Innenraumes dank eines freundlichen, jungen Dampflokführers. Gelobt sei die Eisenbahnerfamilie!
Den weiteren Weg beschreibe ich mit den Worten des Dichters Heinrich Heine, der den Brocken 1824 erwanderte und treffend formulierte:
„Überall schwellende Moosbänke, viele Steine sind von den schönsten Moosarten, wie mit Sammetpolstern bewachsen. Hier und da liegen die Steine, gleichsam ein Tor bildend, übereinander, und oben darauf stehen die Bäume, die nackten Wurzeln über jene Steinpforte hinziehend und erst am Fuße derselben den Boden erfassend, so daß sie in der freien Luft zu wachsen scheinen.“
Nach 1100 Höhenmetern erreiche ich die Baumgrenze, die durch die besonderen klimatischen Verhältnisse, insbesondere dem Wind, verursacht wird und ökologische Bedingungen schafft, die vergleichbar mit denen in den Alpen auf 2000 Höhenmetern sind. Sie schaffen Platz für seltene Zwergstrauchheidelandschaft und eine nirgends sonst in dieser Region anzutreffende Pflanzenwelt. Der Brocken ist der windreichste Ort Deutschland, denn er stellt für feuchte Luftmassen und Stürme ein unüberwindbares Hindernis vor der norddeutschen Tiefebene dar. Und er gleicht nun einer Wanderautobahn! Noch nie, außer kurz vor Erreichen von Santiago de Compostela, habe ich soviele Menschen auf einem Weg gesehen.
Der Brocken endlich wieder frei
Der Berg hat eine bewegte Vergangenheit, zählte sein Plateau doch zum Gebiet der DDR und war für einen normalsterblichen Menschen nie zu erreichen. „Der höchste Berg der Welt“ nannten ihn die Menschen sehnsuchtsvoll, denn die Brockenkuppe war weiträumig von einer fast 4m hohen Betonmauer umzäumt, hinter der sich Stasi, Grenztruppen und sowjetische Militäreinheiten verschanzten und durch Grenzzäune und Mauern entlang des Grenzverlaufes hermetisch abgeriegelt. Oben befand sich eine Abhörstation, ähnlich Point Alpha, nur seitens der Ostzone. Man kann sich vorstellen, welchen Besucherandrang der Brocken nach der Grenzöffnung erlebte. Ein wahrer Befreiungsschlag!
In Ilsenburg erreiche ich das nördliche Tor des Hochharzes und verbringe die nächsten zwei Tage abseits der Grenzlinie in Wernigerrode, auch diese Stadt nenne ich eine der schönsten, nun ja, nicht ganz, auf meinem Weg und ist auf jeden Fall einen Besuch wert! Der ganze Harz ist einen Besuch wert. Jede seiner Regionen hat ihren Reiz. Es gibt hier so wahnsinnig viel zu entdecken und ich bedauere es, dass ich immer weiterziehen muss und so wenig Zeit für Sightseeing habe.
Eine kleine Anekdote zum Schluss, die ich erwähnen möchte, weil ich sie so unglaublich und gleichzeitig so amüsant finde. Sie entstand, als ich gegenüber meinem „Lieblingsfahrgast“ Uli rumjammerte, wie teuer der Harz als touristische Hochburg mich armen Fernwanderer zu stehen kommt. Er schrieb daraufhin:
„Also, man muss den Worten taten folgen lassen. Ich habe dir vorhin 23,43 € auf dein Spendenkonto überwiesen. Kannste ruhig annehmen. 1. Charakter einer Spende ist unentgeltlich und ohne Erwartung einer Gegenleistung, habe ich neulich gelernt😉. 2. Unterhältst du mich ja gut und kannst damit ein gutes Gewissen haben. 3. Habe ich damit meine Staatsschulden beglichen und damit auch ein gutes Gewissen. 1991 stand ich in Key West in einem Supermarkt, da wurde meine Kreditkarte nicht akzeptiert. Eine amerikanische Frau in der Schlange nach mir hat einfach so für mich gezahlt. Das waren so um die 15 $ oder 24,90 DM oder 12,73 €, bei einer Durchschnittsverzinsung von 2,47 % in den letzten 25 Jahren macht das dann 23,43 €. Damit habe ich dann ein noch besseres Gewissen. Meine Staatsschulden beim amerikanischen Volk sind getilgt und der Witz der Geschichte ist, dass die Tilgung an eine Bürgerin der ehemaligen DDR geht😂😂😂. Da würde sich jeder amerikanische Kapitalist jetzt im Grab umdrehen, also eine rundum gelungene Sache!“
Nasse Schuhe und Sachen sind im Nachhinein gesehen nach einer Wanderung immer ein Lacher wert. Diese Erfahrungen mit allem dazu auch wenn es mal Duftet
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