Republikflucht

Die unhaltbaren Zustände in der DDR-Diktatur, die fehlende Meinungs- und Pressefreiheit, die Mangelwirtschaft, die Manipulationen, die Zwangskollektivierung und Verstaatlichung, die Überwachung, die Schikanen und die unverbesserliche, von jeglicher Selbstreflektion befreite Ein-Parteien-Politik der SED führten dazu, dass bis 1989 3,8 Millionen Menschen die DDR verließen. Bis 1961 war das noch relativ gefahrlos möglich, dann aber bemerkte die Staatsführung, dass wertvolle Arbeitskräfte (Facharbeiter, Mediziner, Wissenschaftler und Ingenieure) verloren gingen, die Fluchtwelle kein gutes Licht auf das Land werfen würde und die DDR innerhalb weniger Jahren in ihrem Bestand bedroht wäre und baute die innerdeutsche Grenze fast bis zur Perfektion aus. Ab Anfang der 60er Jahre war ein Fluchtversuch kaum noch möglich und geschah unter Lebensgefahr. Nach Angaben der „Berliner Arbeitsgemeinschaft 13.August“ starben insgesamt 1.135 Menschen an der innerdeutschen Grenze, davon 200 Grenzsoldaten durch Suizid oder Unfälle mit Schusswaffen. Abertausende wurden schwerstverletzt und 75.000 Menschen wurden nach gescheiterten Fluchtversuchen zu harten Gefängnisstrafen unter menschenunwürdigen Zuständen verurteilt. Viele von ihnen tragen psychische Schäden davon und das ihr Leben lang. Zudem zeigte sich in der DDR eine 50% höhere Selbstmordrate als in der BRD. Auch zeigen sich in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch und der Zeit um die Wende verstärkt psychosomatische Krankheitsbilder wie Krebs, Magengeschwüre, Herzkrankheiten, Migräne, Ess- und Schlafstörungen.

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Protokollierung des Bundesgrenzschutzes über Geflüchtete im Bereich Eichsfeld (Quelle: Grenzlandmuseum Eichsfeld)
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Kleidung eines Flüchtlings (Quelle: Grenzlandmuseum Eichsfeld)

Ein Lied der Gruppe Renft nimmt Bezug auf diese Thematik. Es führte letztendlich dazu, dass die Rockband 1975 von der DDR verboten wurde, weil sie zu regimekritisch war.

„Der Text handelt vom „kleinen Otto“, einem DDR-Bürger, der mit seinem Leben unter anderem wegen der Funktionäre unzufrieden ist. Er schreibt deshalb dem „großen Otto“ in Hamburg, er möge ihm die nötigen Devisen schicken, um einen Fluchthelfer zu bezahlen. Als dieser nicht reagiert, springt der „kleine Otto“ in Wittenberge auf ein westwärts fahrendes Binnenschiff. Er wird gefasst, verbüßt eine Haftstrafe wegen Republikflucht und ertränkt sich später in der Elbe, die ihn dann womöglich nach Hamburg treibt. “ [Quelle Wikipedia]


Rockballade vom kleinen Otto (Text: Gerulf Pannach, Musik: Thomas Schoppe)

Seine Kinderjahre
Lagen ihm im Magen
Wie Steine, doch er weint nicht mehr
Manchmal sagte Otto
Leben ist wie Lotto
Doch die Kreuze macht ein Funktionär!

Ob ich nach Norden
Ob ich nach Norden
Ob ich nach Norden flieh?

Als er mal ein Foto
Sah vom großen Otto
Aus Hamburg an der Reeperbahn
Schrieb dem Namensvetter
Er: Du bist mein Retter
Der mir die Freiheit kaufen kann!

Hol mich nach Norden
Hol mich nach Norden
Hol mich oder ich flieh!

Die deutschen Mark, die harten
Ließen auf sich warten
Da ging er an die Autobahn
Und fuhr ungefährdet
Bis nach Wittenberge
Dort sprang er auf´n Elbekahn

Nimm mich mit oh Kapitän
Auf die Reise!
Nimm mich mit oh Kapitän
Durch die Schleuse!

Nach dem Tütenkleben
Wollt er nicht mehr leben
Er fuhr nach Wittenberge rauf
Und ging in die Elbe
Die Stelle war die selbe
Vielleicht taucht er in Hamburg wieder auf

Hol mich nach Norden
Hol mich nach Norden
Hol mich oder ich flieh!


Auf meiner fast 1400km langen Wanderung entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze komme ich an zahlreichen Gedenk- und Informationstafeln vorbei, die Geschichten von illegalen Grenzübertritten erzählen. Sie befinden sich unmittelbar an den Orten des Geschehens, abgelegen im Wald, an Flussufern, auf Wiesen oder am Rande von Ortschaften. Sie erzeugen durch diese Platzierung eine intensive Nähe, einen unmittelbaren Bezug zum Ereignis. Einzelschicksale, die plötzlich greifbar werden und bewegende Gefühle der Trauer und Erschütterung hervorrufen, die nachwirken. Und doch stellen diese Einzelschicksale einen Querschnitt der Grausamkeit dar, die an der Grenze zum Tragen kam. Ein paar davon möchte ich beispielhaft hier abbilden:

Zwischen Willmars und Völkershausen gerieten zwei junge Männer aus Meiningen auf ihrer Flucht am Ostersonntag, 18. April 1965 morgens in das Minenfeld. Einer wurde am Auge verletzt, konnte sich jedoch noch nach Völkershausen schleppen. Der andere war schwer verletzt liegen geblieben. Nach ihm suchte ein großes Aufgebot an Grenzpolizisten, Zollbeamten unter Mithilfe der Feuerwehr und Zivilpersonen aus Völkershausen ohne Erfolg. Nach mehreren Stunden hatte sich der Verletzte mit einem abgerissenen Fuß teilweise auf allen vieren fast zwei Kilometer weit bis nach Völkershausen geschleppt. Beide Flüchtige kamen ins Krankenhaus von Mellrichstadt. Beide überlebten.

Friedensweg, Quelle: Gerhard Schätzlein

Klaus-Peter-Seidel [21 Jahre] und Jürgen Lange [22 Jahre], dienten als Grenzposten […] im Rahmen der verstärkten Grenzsicherung. Hier, etwa 2km südlich von Harras, wurde am 19.Dezember 1975, um 2.40Uhr, der Gefreite Klaus-Peter-Seidel und der Soldat Jürgen Lange vom Fahnenflüchtigen NVA-Angehörigen Werner Weinhold erschossen. Die umliegenden Gemeinden waren in totalem Ausnahmezustand. Überall suchten Grenzsoldaten und die Polizei nach dem Flüchtigen. […] Weinhold konnte anschließend in die Bundesrepublik flüchten. Erst nach einer bundesweiten Fahndung wurde er im März 1976 an der deutsch-niederlädischen Grenze festgenommen und vor Gericht gestellt. […] Im Jahr 1978 wurde Weinhold zu 5½ Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Touristinfo, Grenzwanderweg Landkreis Hildburghausen

Am 03.August 1964 versucht der 49-jährige Monteur Karl Matz aus Neuenbau am Ortsrand über die Grenze zu flüchten. Er hat befürchtet nach einer Auseinandersetzung mit einem SED-Funktionär, wegen „Staatsverleumdung“ ins Gefängnis zu müssen. Als Karl Matz gegen 2Uhr sein Wohnhaus in Richtung Grenze verlässt, wird er dort von einem „Hinterhaltsposten“ erwartet. Ein Bürger hat den Flüchtling denunziert. Karl Matz, Vater von vier Kindern, wird beschossen und an beiden Unterschenkeln getroffen. Er stirbt noch am selben Tag im Krankenhaus Sonneberg infolge der Verletzungen und des hohen Blutverlustes. Die beiden Schützen, der Gefreite M. und der Soldat K., werden mit der „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst“ ausgezeichnet.

Quelle: Roman Grafe: „Die Grenze durch Deutschland“ (Siedler-Verlag 2002)

Die Waffe dürfe bei der Flucht der Grenzgänger angewendet werden, „wenn es kein anderes Mittel für ihre Festnahme gibt“, steht in einer Dienstanweisung der Thüringer Grenzpolizisten (20.08.1947). Am 24.Februar 1951 war der 28-jährige Feinmechaniker Erich Sperschneider aus Mengersgereuth-Hämmern zu Besuch bei seinen Großeltern in Meilschnitz (Franken). Auf dem Rückweg nach Thüringen trug er mehrere Päckchen bei sich: Geschenke von Westverwandten, die er an Bekannte weitergeben wollte. Der DDR-Grenzpolizist Herbert G. schoß ihm ins Bein. Erich Sperschneider versuchte noch, sich das Bein abzubinden. Er starb im Sonneberger Krankenhaus und hinterließ eine junge Frau und zwei kleine Kinder.

Quelle: Coburger Tageblatt, 05.07.2003, Roman Grafe: „Die Grenze durch Deutschland“ (Siedler-Verlag 2002)

Am Mittwoch wurde gegen 10.30Uhr bei Steinbach a.H. ein 45-jähriger Mann aus dem sowjetzonalen Grenzgebiet von DDR-Grenzpolizisten erschossen, nachdem er bereits die Zonengrenze hinter sich gelassen hatte und sich demzufolge auch auf westzonalem Gebiet befand. Er wollte offensichlich in den Westen flüchten. Die Blutspur zeigte, dass sich der Mann nach dem tödlichen Schuß nochmals versuchte in Richtung Sowjetzone zu bewegen.

Quelle unbekannt

„Auf den Mann wurde geschossen am helllichten Tag im Sommer, und der hat sich den Bauch gehalten, hat einen Bauchschuss gekriegt. Dann war natürlich Ende. Nachher wurden wir Kinder schnell wegmanövriert. Wir als Kinder haben diesen Todesschrei gehört, das war furchtbar für uns. Wir haben lange Zeit damit zu tun gehabt, wir hatten richtig psychische Probleme damit. Aber das durften wir ja nicht laut sagen, das durfte nicht mal erzählt werden. Das war ja das Schlimmste. Selbst unter uns Jungs, wir haben da nicht viel darüber gesprochen. Wir haben das in uns reingefressen und einfach versucht zu vergessen.“

Beobachtung eines Bewohners aus Popelau, wie Grenzsoldaten einen Flüchtung im Deichvorland der Elbe vermutlich tödlich verletzten.

Unweit dieser Stelle wurde am späten Abend des 19.August 1974 der 21-jährige Hans-Georg Lemme aus Groß Breese beim Versuch die Elbe zu durchschwimmen, um in die Bundesrepublik Deutschland zu fliehen, getötet. Nachdem ein Patrouillenboot der DDR-Grenztruppen auf den Flüchtling aufmerksam geworden war und ihin nicht zur Umkehr bewegen konnte, fuhren die DDR-Grenzer mit ihrem Boot über den Flüchtling. Dabei wurde Lemme durch die Schiffsschraube tödlich verletzt. Sein Leichnam wurde erst nach einigen Tagen in der Elbe treibend entdeckt. […] Die an der Tat beteiligten DDR-Grenzer gingen nach dem Mauerfall straffrei aus. Das Landgericht in Schwerin vermochte die Tötungsabsicht des Kapitäns nicht nachzuweisen.

Quelle: Michael Schulz

Am 04. September 1976, kurz vor Mitternacht, versucht der 19-jährige André Rößler aus Hohndorf (Sachsen) etwa 100m von hier die DDR-Grenze zu Niederachsen zu überwinden. Am Grenzzaun ist eine Selbstschussanlage installiert. André Rößler wird durch 2 Splitterminen SM 70 mehrfach verletzt, am Herzen, an der Lunge und an den Beinen. Es wird angeordnet:
Transport des Täters ins Kreiskrankenhaus Worbis“ – „Wiederherstellung der vollen Funktionstüchtigkeit der Anlage“ – „Erarbeitung zweckdienlicher Hinweise über den Fluchtweg und begünstigende Bedingungen“ – „Benachrichtigung der Eltern, daß ihr Sohn bei einer versuchten Fahnenflucht verletzt wurde und den Verletzungen erlegen ist“ – Überführung der Leiche“ – „Organisation einer einfachen Beerdigung“ – „Operative Absicherung der Beerdigung des Banditen Rößler, um mögliche Provokationen zu verhindern“
Generalmajor Siegfried Gehlert, Leiter der Beziksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) in einer Beratung zum Vorkommnis an der Staatsgrenze West: „Was der Feind daraus ableitet, ist doch für uns alle klar. Der Pfaffe in Hohndorf will ja nur, dass die Weltöffentlichkeit von diesem Vorkommnis Kenntnis erlangt, da sich die Kirche mit den gegnerischen Kräften in solchen Fällen solidarisiert. […] Wenn zum Beispiel Löwenthal [ZDF] von dieser Sache Wind bekommt, ist er morgen mit einem Fernsehteam in Hohndorf und dann geht die Rakete los. […] Wir müssen die Eltern in Griff bekommen, sie müssen sich einverstanden erklären, daß der Sarg geschlossen bleibt. Wenn sich in Zukunft wieder so etwas abspielt, würden wir die Partei informieren und alles läuft dann ordentlich ab.“ 

Grenzlandmuseum Eichsfeld, Quelle: Roman Grafe

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Rührend menschlich – Gepackte Tasche eines gefassten Flüchtlings (2 Musikkassetten, 2 Konservendosen, eine Flasche Nordhäuser, Saft, Streichhölzer und Papiertaschentücher) Grenzmuseum Mödlareuth

Doch was geschah nach einer gelungenen Flucht? War es tatsächlich so leicht, im anderen Teil Deutschlands Fuß zu fassen? Die Zahl von 400.000 freiwilligen Rückkehrern in den Jahren 1945-1989 spricht da vielleicht eine andere Sprache. Unter der Telefonnummer 0911 810 9400 46309 findet ihr einen interessanten Zeitzeugenbericht eines ehemaligen Beamten der bayrischen Grenzpolizei (dt.Festnetztelefonnummer, keine Sondergebühren).

 

 

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